Der Felsen

Sie steht hoch oben auf einer Klippe, der Felsen fällt schroff ab, hinter ihr liegen weite, grüne Flächen, einsam in ihrer Unendlichkeit und doch einen warmen, vollen Ton in ihrer Seele anschlagend. Vor ihr, weit unter ihr, das Meer. Hoch spritzt die Gischt und kann doch die Frau, das Mädchen auf dem Felsen nicht erreichen. Zu ihrer Rechten, über eine tiefe Schlucht hinweg, durch welche die Brandung rollt, eine weitere Klippe. Durch all die neblig-feuchte Einsamkeit hindurch stellt ihre Seele dort eine Gestalt auf. All ihre Sehnsucht und Wünsche projiziert sie hinein, versucht, ihren Schmerz durch Träume zu lindern.
Sie sieht Vergangenheit und Zukunft zugleich, und in einer Art Trance verändert sich die Welt um sie her. Sie sieht einen einzelnen Sonnenstrahl, der die Wolken durchbricht und zielsicher die kleine Figur auf dem Nachbarfelsen erhellt. Wie durch ein Vergrößerungsglas sieht sie alles, was drüben geschieht, kann die Emotionen auf seinem Gesicht ablesen, sieht seine Seele sich in seinen Augen widerspiegeln, obwohl er so weit entfernt steht, daß doch nur mit Mühe seine Gestalt auszumachen ist. Der Sonnenstrahl beweist, was ihre Seele schon immer wußte, zeigt ihr klar und deutlich, was sonst vor ihr verborgen blieb. Seine Gefühle sind klar, unverfälscht, er wähnt sich alleine mit ihnen, hat das wehende Haar, das flatternde Kleid auf dem Nachbarfelsen noch nicht erkannt.
Ihre Erinnerung baut eine Brücke. Sanft und vorsichtig legt sie einen Stein aus reiner Freude in die Lücke zwischen den Klippen. Als sie sieht, daß er hält, kommen weitere hinzu. Wün-sche und Träume verbinden sich mit Liebesfelsen und Vertrauenszement. Hier und da mischt sich ein kleiner Zweifelskiesel mit ein, doch noch wird er gestützt von großen Treueblöcken.
Doch kaum in der Mitte angekommen, muß sie feststellen, daß es nicht weitergeht. Sie nimmt einen Stein des Begehrens, doch er fällt schaudernd in die Tiefe. Ohne zu verstehen starrt sie hinterher, nimmt den klatschenden Aufschlag, der zurückprallt und ihr Ohr leise und doch hart trifft, ohne Verstehen wahr. Sie versucht es erneut, nun mit Vertrauen, doch auch dieses hat keinen Halt. Lange steht sie am Abgrund, den Tränen nah, starrt hinab und nimmt immer wieder neue Steine, Sand, Zement, doch alles fällt hinab ins Meer. Mit brennenden Augen und fliegenden Händen muß sie erkennen, daß all ihre Mühe vergeblich ist.
Schließlich gibt sie auf, setzt sich kraftlos auf ihr unvollendetes Werk und vergräbt ihr Ge-sicht in den Händen. Als sie beruhigter, gefaßter wieder aufschaut, trifft ihr Blick den Son-nenstrahl auf dem anderen Fels.
Noch immer steht in seinem Zentrum eine Figur, noch immer unverändert. Doch als sie weiter schaut, erkennt sie den Beginn einer Brücke auf seiner Seite. Erkennt, daß auch sein Bau un-vollendet geblieben ist, daß auch er nicht versteht, warum. Mit einem einzigen Blick wird es ihr klar: Mit fieberhafter Eile hatte jeder an seiner Seite angefangen, doch keiner hatte dem anderen etwas entgegenzusetzen. Sie hatten nicht miteinander gebaut, sondern jeder für sich, jeder an der Stelle, die für ihn am bequemsten war, keiner hatte auch nur einmal zum anderen hoch geschaut.
Und während sie dies erkennt, steht sie wieder auf ihrem Felsen und sieht zu, wie beide be-gonnenen Brücken zu bröckeln beginnen. Zuerst fällt die Liebe, dann das Vertrauen, auch die Treue stürzt in den Abgrund. Zum Schluß hält sich einzig die Hoffnung in einer grotesken Schwerelosigkeit über dem Abgrund. Mit einem verzweifelten, erstickten Schrei springt sie hinzu und rettet den letzten Stein vor dem Absturz. Als sie hochschaut, sieht sie, daß auch er etwas in den Händen hält, doch sie kann nicht erkennen, ob es noch Liebe oder nur Trauer, noch Hoffnung oder schon Verzweiflung, noch Treue oder schon Verrat ist. Sie jedoch birgt ihre Hoffnung und nimmt sie zum Grundstein, um einmal, wenn der Zeitpunkt gekommen sein wird, an der richtigen Stelle die Brücke erneut zu bauen.
Doch vorerst bleibt ihr nur die Weite der Ewigkeit, die Weiden und Moore. Und während der Sonnenstrahl hinter ihr erlischt, macht sie sich auf den Weg, den Ort zu finden, an welchem sie mit ihrem letzten verbliebenen Stein eine neue Brücke begründen kann.

© Susanne Bloos, 2001

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