Die Entwicklungen bezüglich des Coronavirus‘ schreiten so schnell voran, dass kaum jemand noch gescheit mitkommt.
Letzten Dienstag sagte ich noch ungläubig zu einer Kollegin „ich hab eben im Radio gehört, Italien hätte 480 bestätigte Fälle, das kann doch unmöglich stimmen?!“ Und während wir noch überlegten, ob das stimmen kann, kam ein Kollege und bestätigte es. Okay, es waren 460 Fälle, aber es war viel – ein paar Tage zuvor waren es keine 20 gewesen.
Heute, nur neun Tage später, hat Italien knapp 3000 Todesfälle durch Corona. Man lasse sich das bitte durch den Kopf gehen, ganz langsam. Von 460 bestätigten Infizierten auf knapp 3000 bestätigte Todesfälle in nur neun Tagen.
Mein Kopf begreift es nicht. Und genau da liegt vermutlich auch das Problem: Die meisten verstehen es nicht. Obwohl es bitterer Ernst ist und die italienischen Krankenhäuser bereits seit Tagen überlastet sind, ist es zugleich völlig abstrakt. Weil es eine Situation ist, die wir so noch nie zu unseren Lebzeiten hatten. Wir haben eine Pandemie, und zwar weltweit. Es gibt zwar Länder, die noch nicht oder kaum betroffen sind, aber es ist eine Frage der Zeit. Und die Menschen sterben wie die Fliegen, wenn nicht rechtzeitig etwas getan wird.
„Ach, so schlimm ist das gar nicht, die Sterberate liegt bei maximal 3%. Und ich bin jung und fit, mich betrifft es eh nicht, ich mache jetzt Party, stecke mich an und wenn ich durch bin, bin ich eh immun.“ Solche und ähnliche Sätze hört man nicht nur vom US-amerikanischen Springbreak, sondern auch hierzulande immer mehr.
Stellen wir mal eine einfache Rechnung auf:
Deutschland hat derzeit knapp 81,5 Mio. Einwohner. Davon werden sich im Laufe der Zeit voraussichtlich 60-70% mit dem neuen Coronavirus infizieren. Das sind dann 49 bis 57 Mio. Menschen.
Von diesen sterben 1-3%, das macht dann im besten Falle knapp 500.000 Tote und im schlechtesten gut 1,7 Mio. Tote.
Wir haben derzeit etwa 28.000 Intensivbetten in ganz Deutschland. Wenn ungefähr 5% der Erkrankten auf Beatmung angewiesen sind, dann hieße das bei 49 Mio. Erkrankten eine Quote von 2,45 Mio. Intensivpatienten.
Nehmen wir weiter an, jeder von ihnen bliebe im Schnitt eine Woche auf der Intensivstation. Dann sind diese 28.000 Betten für 88 Wochen ausgebucht. Das sind fast 1,7 Jahre oder Ein Jahr und acht Monate.
Ein Jahr und acht Monate, in dem keine weiteren Intensivpatienten aufgenommen werden könnten, weil die Betten belegt sind. Kein Herzinfarkt, kein Schlaganfall, kein multiples Organversagen, keine Unfallpatienten – niemand, der dann noch ein freies Bett im Krankenhaus findet.
Selbst, wenn wir wie derzeit in Italien die Patienten nach bereits vier Tagen entlassen und nur 3% der Erkrankten intensivmedizinisch behandelt werden müssen, kommen wir noch auf ein komplettes Jahr volle Bettenauslastung. Ein Jahr, in dem ebenfalls kein anderer Patient auf die Intensivstation kommen darf. Keine OPs, die Intensivpflege benötigen. Keine Beatmung für andere Patienten. Lungenentzündungen, Mukoviszidose, Krebs? Darfst Du alles nicht bekommen oder haben. Und vieles mehr.
Ganz ehrlich: Wenn wir nicht umgehend dafür sorgen, dass wir die Kurve abflachen, sind wir am Arsch. Das da oben sind übrigens die best case-Zahlen. Wenn wir von 70% Infektionen und 10% Intensivpflege für sieben Tage pro Patient ausgehen, sind wir bereits bei vier vollen Jahren Bettenauslastung.
Bleibt verdammt noch mal zuhause, wenn es irgendwie geht! Geht alleine in den Wald oder Park, aber nicht in Gruppen. Sucht euch eine kleinste Peergroup und verlasst diese nicht. Und zwar keiner von euch – diese Gruppe ist euer Sozialkontakt, niemand darf Kontakte außerhalb haben, die über den zu Kassiererinnen, Tankwarten und Ärzten hinausgehen. Wenn ihr arbeiten müsst, sorgt dafür, dass ihr so wenig Kontakt zu Kunden und Kollegen habt, wie irgend möglich. Egal, wie albern andere euch finden.
Meine Kollegin hat Anfang letzter Woche damit begonnen, alles mit Handschuhen zu machen und ihre Hände sowie Kontaktflächen zu desinfizieren. Ich entschuldige mich hiermit bei ihr dafür, dass ich es für überzogen hielt. Ich bin jetzt voll bei ihr.
Ich war heute draußen. Und einkaufen. Ich bin spazieren gegangen und Menschen begegnet. Wir haben alle Abstand gehalten, sind zügig aneinander vorbeigegangen, haben höchstens kurz gegrüßt. Die Spielplätze waren leer, die größte Gruppe, die ich gesehen habe, waren fünf Kinder, ansonsten waren die Menschen alleine oder zu zweit unterwegs. Im Supermarkt wurde der Abstand so gut es ging eingehalten. Das ist wichtig, wenn wir keinen kompletten Lockdown wollen!
Noch ein kleines Rechenbeispiel:
Wenn jeder von uns zu genau vier weiteren Menschen Kontakt hat und diese insgesamt fünf Personen unter sich bleiben, dann ist das eine weitestgehend geschlossene Gruppe. Bekommt einer das Virus, bekommen die anderen fünf es mit großer Wahrscheinlichkeit auch, aber kein weiterer.
Hat auch nur einer von ihnen Kontakt zu einer weiteren Person, die ebenfalls ihre vier Kontaktpersonen hat, so sind insgesamt neun Menschen infiziert. Hat jeder von ihnen Kontakt zu einer weiteren Fünfergruppe (von der er ein Teil ist), so sind insgesamt nicht fünf, sondern 25 Personen infiziert. Und wenn diese auch alle wieder Kontakt zu einer Fünfergruppe haben, sind wir bei 125. Und so weiter und so fort.
Und genau das ist die Gefahr aktuell. Wir igeln uns zwar ein, aber wir treffen uns in Kleingruppen. Heute mit Helga, Bernd und Karl zum Spieleabend, morgen mit der Familie zum Essen. Die Kinder treffen sich heute mit Eva und Finn und morgen mit Lena und Lars. Und diese Personen treffen sich auch wieder heute mit uns und morgen mit anderen. Und so kommt das Virus weiter.
Bis zu einem gewissen Grad soll es das sogar, langsam und halbwegs kontrolliert, damit wir mittelfristig so viele Menschen infiziert haben, dass eine gewisse Grundimmunisierung besteht und die Erkrankungsrate abnimmt. Aber noch sind wir am Anfang der Kurve, nicht in der Mitte und schon lange nicht an ihrem Ende. Und um die Mitte so flach wie möglich zu strecken und die Auslastung der Krankenhäuser so niedrig zu halten, dass auch immer noch Betten für weitere Patienten zur Verfügung stehen, müssen wir unsere realen Kontakte so knapp wie möglich halten – vor allem, solange es noch keinen wirksamen Impfstoff gibt. Und das wird noch recht lange dauern.
Aber wir haben ja andere Möglichkeiten. Telefoniert miteinander. Schreibt Mails. Oder Briefe, wenn Oma keine Mailadresse hat. Chattet, schreibt Whatsapp-Nachrichten und trefft euch online bei Discord oder in MMORPGs. Das macht nebenbei auch noch eine Menge Spaß.
Informiert euch, aber verbreitet keine Panik. Die Zeiten sind hart, aber die allermeisten von uns werden sie überstehen. Wenn wir besonnen handeln.
Ich zitiere mal eine Freundin: „Ich habe sie nicht gewählt, aber Angela Merkel ist meine Kanzlerin.“ Und ja, das, was sie gestern an uns alle gerichtet hat, war klug und besonnen. Wir sollten es uns zu Herzen nehmen.
Die Kieler Woche wurde auf Anfang September verlegt. Ich finde es auf der einen Seite gut, habe aber auf der anderen Seite die Befürchtung, dass das nicht weit genug gedacht ist. Vermutlich wäre es besser, sie 2020 ausfallen zu lassen. Wir werden sehen.
Meine persönlichen Erfolge heute:
- Ich bin gut eine Stunde spazieren gegangen und habe den beginnenden Frühling genossen, ohne in direkten Kontakt mit anderen Menschen zu kommen
- Ich habe fast meinen kompletten Wäscheberg abgearbeitet
- Ich habe viel gelesen
- Ich habe sehr viel mit der Katze geknuddelt (okay, das mache ich immer und sie ist ebenfalls immer der Meinung, dass es nicht genug war)
- Ich habe eine Stunde mit einer lieben Freundin telefoniert
- Ich habe ein bisschen Flöte gespielt
Und ansonsten habe ich das Faulsein genossen und ein bisschen online gezockt.
Wir sind nicht allein, auch wenn wir isoliert sind. Vergesst das nicht. Die Menschen, die wir lieben, sind in ihren Wohnungen und warten darauf, dass wir uns alle wiedersehen. Sorgen wir dafür, dass es dazu kommt.